Eine Szene, die ich erst kürzlich in der tiefgründigen Legende „Die Königinnen von Kungahälla“ der schwedischen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf entdeckt habe, handelt vom Handauflegen. Die Szene verrät viel über vergangene und aktuelle Vorstellungen vom Handauflegen, auf die ich unten näher eingehe. Zunächst jedoch zum Text: Der König von Kungahälla, Olaf Haraldson, wird zum Sterbebett seines Feindes Acke von Gardarike gerufen. Anstelle ihn zu töten, rettet er ihm durch das Auflegen seiner Hände das Leben. Es ist eines von drei Wundern, das der König auf seinem ihm vorbestimmten Weg zum Heiligen vor den Augen seiner Frau Astrid vollbringt:
Acke von Gardarike lag krank auf seiner Schute im Hafen von Kungahälla. Er lag unten in dem engen Schiffsraum und erwartete den Tod. Er hatte lange Zeit schlimme Schmerzen in seinem Fuß gehabt, nun war es eine offene Wunde geworden; in den letzten Stunden hatte der Fuß begonnen, schwarz zu werden. „Du musst nicht sterben, Acke“, sagte Ludolf von Kungahälla, der in den Schiffsraum herabgekommen war, um nach Acke zu sehen.
„Weißt du nicht, dass König Olaf in der Stadt ist und dass Gott ihm große Kräfte gegeben um seines heiligen Lebenswandels und seiner Frömmigkeit willen? Lass ihn bitten, dass er zu dir kommt und dir seine Hand auflegt, dann bleibst du am Leben!“
„Nein, ich kann nicht Hilfe von ihm begehren“, sagte Acke. „Olaf Haraldson hasst mich, weil ich seinen Pflegebruder totgeschlagen, Reor, den Weißen. Wenn er wüsste, dass ich mit meinem Schiff hier im Hafen liege, würde er mich töten.“
Aber als Ludolf Acke verließ und hinauf auf die Straße kam, begegnete er der jungen Königin, die im Wald gewesen war und Nüsse gepflückt hatte. „Königin“, rief Ludolf ihr zu, „sage König Olaf dieses: Acke von Gardarike, der ihm den Pflegebruder getötet, liegt auf den Tod in seiner Schute hier im Hafen.“
[…] Der König stand unten im Schiffsraum bei dem Kranken, bevor seine Mannen daran denken konnten, ihn zu hindern.
„Acke“, sagte König Olaf, „gar manches Mal habe ich draußen auf dem Meer Jagd auf dich gemacht, und du bist mir immer entkommen. Nun bist du hier in meiner Stadt vom Siechtum ereilt worden. Das ist mir ein Zeichen, dass Gott dein Leben in meine Hand gegeben.“
Acke antwortete nicht. Er war ganz machtlos; der Tod war ihm sehr nahe. Olaf Haraldson legte die Hände auf seine Brust und betete zu Gott: „Gib mir dieses meines Feindes Leben.“
[…] Astrid blickte zum König und zu Acke hinein, ohne zu verraten, dass sie da war. Sie sah, wie, während des Königs Hände auf Stirn und Brust des Sterbenden ruhten, die Todesblässe aus seinem Antlitz verschwand; er begann leicht und still zu atmen, er hörte auf zu stöhnen, und endlich versank er in süßen Schlummer.*
Was der Text über das Handauflegen sagt
Grenzräume und höhere Mächte
Wie wir in diesem Auszug erfahren, hatte Acke schon lange Zeit vor seiner Begegnung mit König Olaf schlimme Schmerzen am Fuß, aber erst als sich eine offene Wunde zeigt und der Fuß innerhalb von Stunden schwarz wird, kommt Ludolf auf den Gedanken, ihn durch Handauflegen heilen zu lassen.
Auch in unserem heutigen Leben entsteht häufig erst durch tiefe Krisen, Krankheit, Leid und Schmerz im Grenzbereich zwischen Leben und Tod ein Raum, uns für eine höhere Macht, die sich unserem Verstand entzieht, zu öffnen und uns von ihr trösten, helfen und heilen zu lassen.
Auserwählte
In besagter Legende ist diese höhere Macht ein christlicher Gott. Dieser gibt denjenigen, die einen frommen und heiligen Lebenswandel pflegen, große Kräfte. Hierin spiegelt sich die bis heute fortwirkende Vorstellung wider, dass Auserwählte über besondere Heilkräfte verfügen.
Vormals waren die Praktiken und mentalen Voraussetzungen für das Handauflegen tatsächlich nur wenigen Eingeweihten zugänglich und sie hüteten ihr Geheimnis. Heute kann dieses Wissen jedoch von allen Interessierten durch entsprechende Lektüre und den Besuch von Kursen erworben werden.
Prinzipiell können daher mittlerweile alle Menschen ihre natürliche Fähigkeit nutzen, andere Lebewesen mit der Berührung ihrer Hände zu unterstützen. Ausschlaggebend ist hierbei jedoch weiterhin das Vertrauen in und die Hingabe an eine höhere, universell wirksame Kraft.
Zeichen und Wunder
Anders als der rational-aufgeklärte Mensch unserer Tage, zweifelt Acke nicht daran, dass ihm durch König Olaf möglicherweise ein Heilungswunder zuteilwerden könnte. Er hält sich vielmehr für eines solchen Wunders nicht würdig, da er den Pflegebruder seines potenziellen Retters ermordet hat. König Olaf kommt jedoch ohne Tötungsabsichten zu Acke und deutet das Schicksal, das Acke in völlige Macht- und Hilflosigkeit versetzt und ihm ausgeliefert hat, als Zeichen Gottes.
Darin zeigen sich zwei grundlegende Prinzipien des Handauflegens: der Glaube an schicksalhafte Fügungen und die völlige Unvoreingenommenheit und der bedingungslose Respekt für den hilfesuchenden Menschen, der sich einem anvertraut, unabhängig von seiner Vorgeschichte.
Fürbitte
Bevor König Olaf seine Hände auf Ackes Brust und Stirn legt, faltet er sie vor seiner eigenen Brust zum Gebet und bittet Gott um Heilung für Acke. Ungeachtet ihres religiösen oder weltanschaulichen Hintergrunds ist die Fürbitte für die Kranken und Hilfesuchenden – ebenso wie das Vertrauen in eine, wie auch immer geartete, höhere Macht – bis heute eines der Kernelemente des Handauflegens.
Handpositionen
Die Tatsache, dass König Olaf nicht den kranken Fuß Ackes, sondern seine Brust und Stirn berührt, deckt sich mit der Überzeugung, dass beim Handauflegen heilende Kräfte durch den ganzen Körper fließen, und dass die kranken Körperstellen deshalb nicht zwangsläufig berührt werden müssen. Der Brustraum wird in unterschiedlichen spirituellen Traditionen übrigens mit dem Raum der Liebe und der Herzensenergie assoziiert und die Stirn wird als Sitz des inneren Auges und der Intuition gedeutet.
Wirkung
Tatsächlich entfesselt König Olaf die Selbstheilungskräfte von Acke von Gardarike, was sich darin zeigt, dass seine Todesblässe verschwindet und sein Atem leicht und still wird. Acke steht somit keine Todesqualen und -ängste mehr aus und kann in einen „süßen Schlummer“ übergehen, der seinen Schmerz lindert und ihm innere und äußere Heilung bringt. Das Wunder, auf das jeder Leidende und Schwerkranke bis zum Schluss hoffen darf, ist in diesem Fall vollbracht.
*zitiert aus: Selma Lagerlöf: Die Königinnen von Kungahälla, in: Legenden, Sagen und Geschichten aus dem Norden. Aus dem Schwedischen von Marie Franzos und Pauline Klaiber-Gottschau. Anaconda Verlag, 2017, S. 131–207, hier: S. 179–180, Auszug online verfügbar in Kapitel III im dritten hervorgehobenden Absatz unter: https://www.projekt-gutenberg.org/lagerloe/koenigin/chap004.html.